Freitag, 8. Februar 2013

"Vorher gab es nichts" - Ehrung für Claude Lanzmann

Auf der diesjährigen Berlinale wird der französische Filmemacher Claude Lanzmann für sein Lebenswerk mit dem goldenen Ehrenbären geehrt. Aus diesem Grund spielt das Festival die wichtigsten seiner Filme im Rahmen einer Werkschau. Lanzmann, 1925 als Sohn jüdischer Eltern in Paris geboren, kämpfte als Jugendlicher in der französischen Resistance und tötete bei Widerstandsaktionen deutsche Soldaten. 1948 kam er zu philosophischen Studien nach Deutschland und leitete in Berlin unter anderem ein Seminar über Antisemitismus an der neugegründeten Universität.
Ohne Zweifel ist Lanzmann mehr als ein Dokumentarfilmer, so wie sein mehrstündiger Film SHOAH sich der Einordnung in übliche Kategorien entzieht. Im Gespräch mit Rüdiger Suchsland in der Jüdischen Allgemeinen betont Lanzmann: "Ich sehe mich überhaupt nicht als Dokumentarfilmer. 'Shoah' weicht den üblichen Kategorien - fiktional oder dokumentarisch - aus. Die sind zu platt und beschreibend. Ich habe keine bereits existierende Realität abgefilmt, sondern ich habe das überhaupt erst komplett hergestellt, was man auf der Leinwand sieht. Vorher gab es nichts."
SHOAH ist tatsächlich mehr als ein Film. Die Berlinale spricht von "Monumenten gegen das Vergessen". Doch wie das Prequel SOBIBOR, 14 OCTOBRE 1943, 16 HEURES ist auch SHOAH nicht nur eine filmische Erinnerung, sondern eine Annäherung an die organisierte Gewalt, an den Tod, an die Vernichtung. Während das allgegenwärtige Gedenken in und ausserhalb des Kinos zumeist die Überwindung der Vergangenheit zum Gegenstand hat und den Blick in die Zukunft richtet, konfrontiert sich Lanzmann in SHOAH mit dem Abgrund der Verbrechen.
Doch SHOAH ist längst auch selbst zum Instrument einer erfolgreichen Verdrängung geworden. Seine Fürsprecher reduzieren Lanzmann gerne auf den Schöpfer eines Filmmonuments, hinter dem nicht nur andere Filme über den Holocaust, sondern vor allem Lanzmanns eigenes Werk verschwindet. Es ist ein seltenes Glück, dass die Ehrung für Lanzmann auch seine großartigen Filmwerke über Israel ins Kino (zurück-) bringt. Doch der Berichterstattung, auch der Berlinale selbst, sind POURQUOI ISRAEL und TSAHAL oft nur Randnotizen wert. Dabei ist SHOAH als Teil einer Trilogie der Gewalt und des Antisemitismus ohne seine Bezüge zu dem Vorgänger POURQUOI ISRAEL und dem Nachfolger TSAHAL nicht wirklich zu verstehen. Es ist kein Zufall, dass Lanzmanns lebendiges und oft erstaunlich unmittelbares, nicht selten auch komisches Porträt des jüdischen Staates von 1973 mit Widerstandsliedern beginnt, die Gerd Granach vor der Kamera sing, sowie Filmaufnahmen von der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Im Zentrum des Films, der aus heutiger Sicht erstaunliche Sequenzen enthält (unter anderem über Einwanderer aus der damaligen Sowjetunion, Gespräche mit den ersten Siedlern in der Westbank etc.), steht eine Szene, in der Gegenwart und Vergangenheit urplötzlich zusammenschießen: die erstaunte Feststellung, dass es im jüdischen Staat jüdische Polizisten und jüdische Diebe gibt, und die eingekapselte Erinnerung an die eigene Erfahrung der Shoah eines von Lanzmann zufällig gefilmten Polizisten.
Ebensowenig ist es ein Zufall, dass SHOAH und TSAHAL, Lanzmanns Film über die israelischen Verteidigungskräfte aus dem Jahr 1994, aufs Engste miteinander vernäht sind. SHOAH endet bekanntlich in a-chronologischer Weise mit dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto. An diesen historischen Punkt schließt TSAHAL an und stellt den Überlebenskampf der Israelis in die Tradition jüdischen Widerstands gegen Antisemitismus und Vernichtungsdrohung.
Auch formal eröffnen TSAHAL und POURQUI ISRAEL zahlreiche Parallen zu SHOAH. Dies beginnt bei Lanzmanns Vorliebe für lange Einstellungen, die ein Gefühl von Dauer evozieren und damit körperliche Reaktionen beim Publikum hervorrufen. Das zeigt sich auch in der Struktur der Filme, die verschachtelte Erzählungen sind, in denen die Konstruktion von Situationen zum Ausdruck bringt, was die kausale Erklärungsstruktur verschleiert. Das zeigt sich vor allem aber in Lanzmanns Art mit Menschen zu sprechen, wodurch Verhaltensweisen und Gegenstände zu Auslösern von Erinnerungsprozessen und Re-enactments werden. Diese zeigen sich insbesondere auch in TSAHAL, der als Film über antisemitische Gewalt und Gegengewalt auch in eine untergründige Beziehung mit Lanzmanns Porträt von Yehuda Lerner und dem Aufstand in Sobibor tritt.

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