Donnerstag, 24. April 2014

Ein Film als Fußnote


Als Joseph Cedars Film Footnote 2011 als israelischer Beitrag nach Cannes eingeladen wurde, reagierte der bekannte israelische Schauspieler Lior Ashkenazi, der in dem Film einen Talmud-Professor spielt, überrascht: „Wenn ein israelischer Film nach Cannes eingeladen wird, so wie ‚Waltz with Bashir‘“, so Ashkenazi, „dann handelt er über den Nahostkonflikt.“ Aber in Footnote spielt der Konflikt überhaupt keine Rolle. Politik ist auf den ersten Blick seltsam abwesend in dieser Geschichte über einen Vater und einen Sohn, beide Professoren für Talmudstudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem, die von Kritikern als „dunkel-komisches Drama ödipaler akademischer Rivalität“ (Brandeis Now), „komischer Alptraum“ (Chicago Tribune) oder „tragikomisches Märchen“ (New York Times) beschrieben wurde.

Tatsächlich ist Footnote auf den ersten Blick ein eher  ungewöhnlicher israelischer Film. Zwar steht in seinem Zentrum– in überraschend pronuancierter Weise – eine der wichtigsten jüdischen Schriften, der Talmud, aber jüdisches Leben in Israel und die damit verbundenen Konflikte, spielen anders als in anderen aktuellen Beispielen über das Thema, keine Rolle. Zwar thematisiert der Film einen Generationenkonflikt, aber die in vielen Gegenwartsfilmen verhandelte Diskussion über das Erbe des Zionismus wird dabei nicht angeschnitten.

Stattdessen thematisiert Footnote eine Leerstelle im israelischen Kino wie Regisseur Cedar in einem Interview betont: „Israelische Filme haben immer Schwierigkeiten gehabt, ihre Verbindung zum ‚größeren Israel‘ (also der religiösen Tradition) zu finden. Ich habe an einer Yeshiva (einer Religionsschule) gelernt und den Talmud aus religiöser Perspektive studiert. Keine andere Kultur hat ein so gewaltiges und detailliertes Werk geschaffen, das noch immer relevant ist. Der Text ist eine Quelle unserer Kultur. Der Film berührt daher etwas, das mit unserer Identität zu tun hat.“

Was Cedar hier anspricht berührt die verborgenen Grundlagen der israelischen Gesellschaft und des jüdischen Staates, der sich bei seiner Gründung einerseits auf eine Jahrtausende alte Geschichte berief, andererseits einen radikalen Neuanfang und Bruch mit der Vorgeschichte (der Diaspora) proklamierte. Als Brücke zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit dienten auch damals bereits Wissenschaftlern und Forschern religiöse Schriften wie der Talmud oder auch die Kabbala. Diese Wissenschaftler lasen die alten Texte aber nicht mit den Augen eines gläubigen Juden, sondern analysierten sie aus einer philologischen oder historisch-kritischen Perspektive. Für Gershom Scholem zum Beispiel, der 1923 nach Palästina ausgewandert war und seit 1925 an der neugegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem zunächst als Bibliothekar und dann als Professor für Jüdische Mystik tätig war, boten die religiösen Quellen eine geeignete Grundlage für eine kritische Historiographie des Judentums.

An der Hebräischen Universität entstand auch gleich zu Anfang eine Abteilung für Talmudstudien, die von Yaacov Nachum Epstein geprägt und geleitet wurde. Die von ihm begründete Jerusalemer Schule sah und sieht sich aus Verantwortung für die Integrität der Texte vor die Aufgabe gestellt, die ursprüngliche Fassung der antiken Schriften so genau wie möglich zu rekonstruieren. Nicht die Auslegung oder Aktualisierung ihres Inhalts, sondern die präzise Edition des Textes ist aus ihrer Sicht die Aufgabe des Talmud-Gelehrten. Der Forscher muss Fotografien und Kopien möglichst aller existierenden Manuskripte aus den entlegensten Sammlungen und Bibliotheken zusammentragen und Wort für Wort vergleichen, um mögliche Übertragungsfehler und Entstellungen feststellen zu können.

Bereits im 19. Jahrhundert waren an deutschen Universitäten erste Formen jüdischer Studien entstanden, deren Forschungsgegenstand auch die geheiligten Texte des Judentums waren, die nun als Dokumente der Tradition und Geschichte gelesen wurden. Rekonstruiert wurde dabei der historische Hintergrund ihrer Entstehung, die im Fall des Talmuds eng mit der Zerstörung des Ersten Tempels und der Vertreibung ins Babylonische Exil zusammen hängt. An diesem Wendepunkt der jüdischen Geschichte entstanden, steht der Talmud auch für die Bewahrung von Erbe, Tradition, Gesetzen und ihrer Auslegung in der Diaspora. Neben dem im Exil editierten Babylonischen Talmud entstand in der kleinen, nach der Vertreibung aus Palästina übrig gebliebenen, jüdischen Gemeinde in Erez Israel der Jerusalemer Talmud. In seinen zwei Teilen, der „Mischna“ und dem „Gemara“, der Lektüre und dem Kommentar zur Tora und ihren Auslegungen, basiert der Talmud vor allem auf umfangreichen Diskussionen, Gesprächen und Gleichnissen von rabbinischen Schriftgelehrten.

In Footnote wird einerseits der akademische Konflikt zwischen einer streng philologischen Talmud-Forschung und ihrer narrativ-diskursiven Aneignung zum dramaturgischen Angelpunkt der Vater-Sohn-Beziehung gemacht. Während der von Lior Ashkenazi gespielte Uriel Shkolnik eine schon fast postmoderne Position zu den Texten als Ausgangspunkt widerstreitender Lesarten einnimmt, repräsentiert sein Vater Eliezer, gespielt von Shlomo Bar Aba, die puritanisch-strenge philologische Position. Der akademische Konflikt wird dabei auch mit dem Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn verbunden, die sich doch in wesentlichen Zügen ähneln. Zugespitzt wird dieser Konflikt durch die Nominierung für den begehrten Israel-Preis, die Vater und Sohn zu direkten Konkurrenten macht und notwendig Loyalitätskonflikte nach sich zieht.

Dieser allgemein-ödipale Konflikt zwischen Erbe und Abgrenzung erhält jedoch durch den verhandelten Gegenstand, die Talmud-Studien, auch eine partikulare Dimension. Der Film nimmt in seiner Struktur nicht nur das dialogisch-diskursive Narrationsprinzip des Talmuds auf, er verhandelt implizit auch vermittels des Talmuds als Figur des diasporisch-jüdischen Erbes den Umgang mit Tradition und Religion und widerstreitende Positionen des Bewahrens und Pflegens gegenüber einer gegenwartsorientierten Aktualisierung und Aneignung.

In verschiedenen Interviews hat Regisseur Joseph Cedar diese Spannung zwischen Universellem und Partikularem, die Religion wie Geschichte des Judentums durchzieht, explizit angesprochen. „Obwohl ich nicht sicher bin, ob eine perfekte Balance zwischen beiden überhaupt möglich ist, weil eine immer auf Kosten der anderen dominiert, tendiere ich selbst stärker in die Richtung, mit kulturell extrem spezifischem Material zu arbeiten und zu hoffen, dass andere Menschen außerhalb meines Umfeldes die menschlichen Motivationen darin wiederfinden.“

Das gilt in besonderer Weise für Footnote, der sich mit der Universität und den Talmud-Studien zwei sehr spezifischen Nischen der israelischen Gesellschaft zuwendet, dabei gleichzeitig eine selbst innerhalb Israels partikulare Sicht auf die Grundlagen des Judentums einnimmt und eben nicht letztlich doch universelle Konflikte innerhalb der streng-orthodoxen Gemeinschaft (z.B. im Umgang mit Frauen oder Homosexualität wie in anderen israelischen Filmen jüngster Zeit) thematisiert. Dennoch öffnet sich der Film schließlich einer universellen Perspektive. „Es handelt sich um einen Film über den Wunsch nach Anerkennung“, so Cedar: „Jeder hat diesen Wunsch und in diesem Film reicht der Wunsch so tief, dass er zu einer Überlebensgeschichte wird. Leben und Tod. Das ist etwas, dass jeden interessieren kann, egal wo auf der Welt.“

Auf ähnliche Weise hat der Regisseur auch in seinen früheren Filmen seine Geschichten erzählt. In Campfire porträtierte er 2004 eine alleinerziehende Mutter, die sich einer religiösen Siedlergemeinde in der West Bank anschließt. Dabei ermöglicht der Film gleichzeitig einen intimen Blick in die trotz medialer Omnipräsenz weitgehend unbekannte Welt der israelischen Siedler und schafft trotzdem kritische Distanz. Noch deutlicher wird 2007 ein spezifisch israelischer Mikrokosmos in Beaufort zum Spielraum allgemein menschlicher Konflikte. Auf engem Raum inszeniert Cedar in diesem Film die letzten Tage einer Militäreinheit in einer Basis im südlichen Libanon kurz vor dem einseitigen israelischen Abzug im Jahr 2000. Der Film beobachtet und entwickelt ethische Dilemmata und spiegelt darin die Spezifik des jahrzehntelangen Libanonkonflikts genauso wie die Dynamik einer auf engem Raum zusammengepferchten Gruppe.

Rivalität und Konkurrenz prägten bereits die Konfliktlinien dieser beiden Filme. Aber im Vergleich zu Campfire und Beaufort ändert sich in Footnote die Tonart. Obwohl Cedar an dem Film auch die Qualitäten einer Tragödie hervorhebt, bedient Footnote doch letztlich das Genre der Komödie. Daneben fällt aber insbesondere auf, wie vielschichtig Cedar die Erzählform seines Films im Vergleich zu den beiden weitgehend linear erzählten Vorgängern anlegt. In gewisser Weise adaptiert der Film dabei selbst die Form eines vielfach überlagerten und beschriebenen Textes. Der Talmud mit seinen zahlreichen Ergänzungen und Randnotizen steht somit Pate für eine filmische Form, die sich immer wieder in Exkursen und Abschweifungen verliert. Darüber hinaus spielt Cedar nicht nur mit der Zeit, die mitunter in phantastischen Szenen und Sequenzen vollständig auszusetzen scheint, sondern auch mit dem Wechselspiel zwischen Bild und Text. Immer wieder füllt Schrift das Bild auf und stellt der visuellen Narration eine schriftbildliche zur Seite. Die Figur der Fußnote, die eine zusätzliche aber letztlich vielleicht periphere Erklärung gibt, wird dabei wiederholt aufgerufen und rückt so ins Zentrum. „Die Fußnote ist ein Paradox“, schreibt Paul Morrison in einer Besprechung des Films. „Ihre Aufgabe ist es, eine stabile, hierarchische Trennung zwischen dem herzustellen, was zentral und dem, was marginal in einem Text ist. Doch in der Praxis tendiert sie zum Gegenteil. In den Talmudstudien führt die schiere Überfülle von Fußnoten dazu, leicht den ‚Primärtext’ zu überwältigen. Das Marginale wird zum Zentrum. Und wie Cedar klar erkannt hat, ist das, was an den Rand verschoben wurde, meist von größtem Interesse.“

So stellt Footnote ein filmisches Äquivalent zur Figur der Fußnote dar. Das macht schon die Eröffnungsszene deutlich. Wir wohnen einer feierlichen Zeremonie bei. Unser Blick ist aber von der Bühne weg auf das Publikum gerichtet. Vater und Sohn sitzen nah beieinander und doch macht ihre Haltung deutlich, wie viel zwischen ihnen steht. Uriel wird zu einer Dankesansprache auf die Bühne gerufen. Gegenstand seiner Rede ist sein Vater. Wieder verwehrt uns der Film den erwarteten Blick auf die Bühne. Die Kamera bleibt beim Vater. Sein Gesicht ist der Kommentar, der die Worte des Sohnes erst vervollständigt. Der Film ist auf diese Weise ein Blick an die Ränder, er behandelt eine scheinbare Nebensache, eine kleine Notiz. Doch dahinter verbirgt sich eine vielschichtige, ebenso emotionale wie bedeutungsvolle Schicht. Dies wird insbesondere in der Schlusssequenz wieder aufgegriffen, die fast wie ein surrealistischer Reigen funktioniert und so als Konsequenz aus den Überlagerungen eine Zwischenwelt kreiert, in der Realität und Projektion vollständig verschwimmen. Cedar hat erklärt, dieser Schluss funktioniere ähnlich einer Tanzsequenz, mehr choreographiert als inszeniert: „Das Ergebnis ist ein subjektiver Blickpunkt von einem Ereignis, das von Außen festlich und harmlos erscheint, aber von der Perspektive der Figur, von seiner inneren Welt aus gesehen, nicht weniger als apokalyptisch wirkt.“ So ist der Film letztlich doch auch ein verschlüsselter Kommentar zur israelischen Realität und fügt sich so in die Tendenz des gegenwärtigen israelischen Kinos ein als Seismograph einer vielschichtigen und vielstimmigen Gesellschaft zu fungieren.

Footnote wurde als bester israelischer Film mit einem Ophir Award ausgezeichnet. Dies ermöglichte es dem Film, auch ins Rennen um die Oscars für den besten fremdsprachigen Film zu gehen. Trotz Nominierung ging Cedars Film, genauso wie einige Jahre zuvor auch Beaufort, in Hollywood leer aus. Allerdings gewann Footnote auch die Ophir Awards für das beste Drehbuch, den besten Hauptdarsteller, den besten Nebendarsteller und weitere fünf Auszeichnungen, sowie den Preis für das beste Drehbuch beim Filmfestival in Cannes.

So ist Footnote letztlich vielleicht doch mehr als eine Fußnote in der israelischen Filmgeschichte geworden. Er greift dabei die das israelische Gegenwartskino prägenden Spannungen zwischen den Generationen und um das politische und kulturelle Erbe auf. Aber anders als andere erfolgreiche Filme der letzten Jahre wie An ihrer Stelle (über ultraorthodoxe Juden) oder Bethlehem (über Israelis und Palästinenser) fördert gerade der Blick in einen scheinbar marginalen Bereich des Lebens eine Geschichte zutage, die sich klaren Ein- und Zuordnungen widersetzt. Durchzogen von Ambivalenzen ist Footnote ein Film, der um Brüche, Verwerfungen und Sackgassen herum aufgebaut ist und dennoch seinen heiteren Ton und das Interesse an seinen Figuren nie verliert

(Der Text wurdeam 23. April 2014 als Einführung auf einer Veranstaltung des Jüdischen Filmclubs im Metropolis-Kino Hamburg gehalten.)